Lothar Wolleh war ein deutscher Fotograf.
Berlin, Deutschland 1930 - 1979 London, England.

Künstlerischer Weg

„Ist das nicht irre!“ Ein Versuch über Lothar Wolleh

Lothar Wolleh
  • Autor Heiner Stachelhaus
  • Zeit 1980
  • Werk Portrait

Heiner Stachelhaus war mehr als ein Journalist, der sich mit der deutschen Künstlerszene befasste. Er war ein Wegbegleiter, der der deutschen Avant-garde. Nach Wollehs Tod war er der offensichtliche Autor um zum ersten mal Lothar Wollehs künstlerischen Werdegang aufzuzeichnen. 

Lothar Wolleh in seinem Apartment

Das Eigentümliche des Wirkens und der Wirkung von Lothar Wolleh ist nicht leicht zu erfassen. Er was eine komplexe Figur mit einem komplizierten Charakter und einem zwischen himmelhochjauzend und zutodebetrübt immerzu schwankenden Temperament. Alle, die mit ihm zu tun hatten, wissen, dass er eine besondere, ja einmalige Erscheinung war. Er kam wie ein Blitz an, bewegte, veränderte etwas, verschwand wie ein Blitz – wo er „eingeschlagen“ hatte, entstand ein Klima kreativer Lust.

Quälende Unrast

Wolleh, 1,92 m groß, schlacksig-elegant, stand unter Dauer-Spannung, war immer unterwegs und nicht zu bremsen. Er war, als ob er geahnt hätte, daß die Zeit für ihn knapp bemessen sein würde. Er trieb sich zu einer Kette von Höchstleistungen, und nur unter Zwang, wenn seine angegriffenen Bronchien ihm das Atmen erschwerten und der Kopf ihm allzusehr schmerzte, legte er eine Pause ein. Aber dies waren Pausen quälender Unrast – schon die kleinste Linderung war für ihn der willkommene Anlaß, über die Szene zu irrlichtern, seine Ideen zu versprühen, die verrücktesten und wildesten Sachen anzupacken und zu verwirklichen.

Schöpfer unvergleichlicher und unverwechselbarer Lichtbilder

Lothar Wolleh war ein genialer Foto-Künstler, Phantast und Realist zugleich, Schöpfer unvergleichlicher und unverwechselbarer Lichtbilder und souveräner Handwerker. Daß es ihm gelang, bildende Künstler der unterschiedlichsten Stilrichtungen – große und gute Namen zumeist – zur Kooperation mit ihm, den Fotografen, zu animieren und auf dieser Basis von Gleichberechtigung die bildende Kunst mit dem Medium Fotografie zu verschmelzen, ist seine größte, wichtigste und unwiederbringbare Leistung.

René Magritte
Ort des Lichtes
Ort des Lichtes
Lucio Fontana

Die Künstler wissen, was für ein Mann da am Werke gewesen ist. Günther Uecker, den ich um ein Statement für diesen „Versuch über Lothar Wolleh“ bat, schrieb mir: „Lothar war ein Künstler. Die Verehrung, die er Künstlern entgegenbrachte, zeugte von seiner Bescheidenheit. Er war ein aufdringlicher Teilnehmer – er versuchte, in das künstlerische Werk jedes einzelnen, dem er sich zuwandte, einzudringen, es sich vorstellbar zu machen, des einzelnen mit in seine Kammer (Kamera) zu zwingen – etwas wie man eine Braut entführt. Er war ein Obsessioneller, einer, der dem Gedanken Wahnsinn gab, während, was möglich, unmöglich war.“ 

Ich kann diese Erfahrung Ueckers, den eine langjährige, enge Freundschaft mit Wolleh („Er war ein treuer Freund.“) verband, durch ein Erlebnis aus den letzten Lebenstagen Wollehs bekräftigen. Henry Moore war nach Bonn gekommen, um dabei zu sein, als Bundeskanzler Helmut Schmidt die Übergabe der Moore-Skulptur „Large Two Forms“ vor dem Kanzleramt mit einer kleinen Staatsfeier inszenierte. Der alles andere als greisenhaft wirkende 82jährige englische Bildhauer, der schon lange auf der Liste Wollehs stand, stellte sich zu einem Foto im Kunst-Bahnhof Rolandseck zur Verfügung. Wolleh porträtierte ihn in klassischer Pose, lichtumflutet zwischen zwei hohen Fenstern. Moore kommentierte das Foto: „Da sehe ich ja wie ein Diplomat aus – kommen Sie nach England in mein Atelier, da haben wir die richtige Atmosphäre.“    

Enorme Portraits auf fotografischen Leinen
Günther Uecker

Henry Moore, wir wissen es, war der letzte Foto-Termin Wollehs. [...]

„Seine Hände“, so schrieb Uecker, „waren in dauernder Bewegung, um seinen Vorstellungen Greifbarkiet zu geben. Seine Empfindungen schwebten in der phantastischen Welt der Bilder. So war er für viele unverständlich, weil er seine Vorstellungen nur im Augenblick der Öffnung des Kammeraverschlusses zu verwirklichen vermochte. Oder in der dunklen Kammer, wo das Abbild zum Bild seiner Entwicklung nahm.“ 

Joseph Beuys

Was für Bilder waren im Kopf, im Herzen, in der Seele dieses Menschen! Josef Beuys, der ihm ein Porträt aus Formeln und Begriffen und Zeichen widmete und den er selbst auf unnachahmliche Art auf einem aus Leinwandbahnen zusammengestzten 5 m x 5 m großen Foto verewigt hat, hat mir gegenüber von einem „hellsichtigen Menschen“ gesprochen, “der vor allem durch seine Erfahrungen, die ja schrecklich waren geprägt worden ist.“ 

Fotograf und Inspirator

Beuys meinte damit die Erfahrungen des 15jährigen Wolleh, der damals dazu verurteilt war, seine Heimatstadt Berlin zu verteidigen und den die Russen 1950 wegen angeblicher Spionagetätigkeit zu 15 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt hatten, wo er untertage Erz abbauen mußte. Nach sechs Jahren wurde er begnadigt, ging zurück nach Berlin, lernte auf der Lette-Schule das Handwerk der Fotografie, holte sich – nach einer Zwischenstation auf der Hochschule für Bildende Künste Berlin – auf der Essener Folkwangschule für Gestaltung bei Otto Steinert den fotografischen Feinschliff.

Uhren-Editionen von der Avantgarde desingt

Der Erfolg scheint vorprogrammiert – Wolleh macht Karriere in der Werbung. VW, Tschibo-Kaffee, die Bundesbahn sind seine Kunden, die großen Werbeagenturen setzen auf ihn. [...]

Wolleh / Schoonhoven Uhr (Edition, 1971)
Wolleh / Arman Uhr (Edition, 1970)

Aber zu dieser Zeit hat Wolleh seine Passion für die bildende Kunst – nicht zuletzt dank des Engagements von Freunden wie Uecker, Adolf Luther, Heinz Mack, Beuys, Erwin Heerich und anderen Künstlern der „Düsseldorfer Szene“ – in die Tat umgesetzt. Wolleh beginnt, seine immensen Fähigkeiten als Fotograf in den Dienst von Künstlern zu stellen und dabei selbst künstlerisch und animierend tätig zu werden. Es ist wie ein Rausch. „Wolleh“, so sagte mir Beuys, „besaß die unheimliche Fähigkeit, Dingzusammenhänge wahrzunehmen. Er war, mit großer Intuition ausgestattet, eine Art Schatzsucher. Seine besten Fotos machte er so, daß er die Kamera hinstellte, wegging und die Bilder aus der Entfernung steuerte – dabei kamen die genialsten Dinge heraus.“ 

Meine Arbeit ist nie vom Zufall bestimmt

In der Tat ist Wolleh nie um Einfälle verlegen gewesen. So machte er für und mit Beuys ein „Unterwasserbuch“. Er brachte Künstler wie Uecker, César, Schoonhoven und Arman dazu, für ihr Werk spezifische Armbanduhren zu entwerfen, die er dann bei einem Düsseldorfer Uhrmacher in Auftrag gab und in zwei bis fünf Exemplaren herstellen ließ. Er selbst pflegte eine Uecker-Uhr zu tragen – mit einem Nagel als Uhrzeiger. 

Diesem Fotografen wurde nichts zuviel, wenn es um die Kunst und um die Künstler ging. Er sauste wie ein Wirbelwind durch die Kunstwelt, gab „Art Scene Düsseldorf 1“ heraus als fotografisches Kunstprodukt mit werktypischen Fotos von Beuys, Gerstner, Graubner, Heerich, Klapheck, Kriwet, Luther, Mack und Palermo, brachte eine wachsende Sammlung möglichst gleichformatiger Bilder dieser und anderer Freunde (wie Fontana, Dieter Rot, Richter) zusammen, und begann, jene Sammlung voranzubringen, die Gegenstand dieser Ausstellung ist – auf Leinwand gezogene Künstlerporträts, die von diesen mit ihren eigenen Mitteln verändert, verfremdet wurden. 

Die Kunst- und Animationstätigkeit Wollehs findet mit diesen Bildern ihre schönste Erfüllung. Es sind beispiellose, nur durch das Kunstwollen des Fotografen entstandene Arbeiten, die eine gelungene Symbiose von Kunst und Dokumentation sind. Wolleh hat mit seinem Elan und mit seinem hoch entwickleten Gespür für die Eigenart eines Künstlers und die Problematik von Kunst eine Porträt-Reihe entwickelt, die Bild für Bild wie in einem Focus das Spezifische des Werkes von Künstlern wie Man Ray, Magritte, Fontana, Kienholz, Tinguely, Spoerri, Mack, Arman, Rinke, Luther, Reusch, Uecker, Stazewski, Tobey, Kriwet, Richter, Bury, Ruthenbeck, Luginbühl, Sonia Delaunay, Zangs, Agam, Oldenburg, Filliou, Wotruba, Dieter Rot, Beuys, Mansouroff, Graubner, Schoonhoven, Vantongerloo, Megert oder Heiliger deutlich macht. 

120 solcher Porträts sind zusammengekommen, meistens im Format 50 x 50 cm, etliche im Format 100 x 100 cm, andere, besonders von Uecker oder Beuys, im Format 240 x 240 oder 150 x 150 cm. Wolleh hat diese Kooperationsbilder immer auch unter dem Aspekt ihrer öffentlichen Wirkung gesehen. Er wollte, daß sie einmal Bestandteil eines Museums für aktuelle Kunst werden.

„Ist das nicht irre!“ Mehr ausrufend als fragend, erwartend also, dass sich die eigene Begeisterung beim Partner wiederspiegelt, hat Wolleh diesen Satz zum festen Bestandteil seines Tuns gemacht. Sein Freund Adolf Luther, den ich um eine Charakterisierung bat, wies auf „die Nähe der Verrücktheit“ hin: „Ich meine die Nähe jenes `heiligen Eifers´ der Phantasie. Lothar Wolleh war für mich die seltene Begegnung mit dem besonderen Menschen des Auges, des Weges der Kunst, der ja der zentrale und direkte ist zum Leben im eigentlichen Sinne. Seine visuelle Lust war geradezu überwältigend. Es war, als ob seine ganze sinnliche Kraft über das Auge verliefe. Seine Fotos zeigen das auf jeden Blick – sie sprechen für die Sensibilität des Künstlers. Sie waren Basis des Miteinanders. Wie seltsam zu ahnen, daß solches Einmalige so deutlich ist und so unwiderruflich.“

Wolleh hat das Einmalige, Verrückte, Obsessionelle, Irre kultiviert – er konnte gar nicht anders. Alles, was er anpackte, war auf technische Perfektion und ideelle Vervollkommnung angelegt. „Ich weiß, wie eine Fotografie aussehen muß“, sagte er einmal zu mir, „meine Arbeit ist nie vom Zufall bestimmt, auch wenn sie manchmal nach `blow up´ aussieht. Seine fotografische Handschrift hat er früh ausgeprägt: quadratische Formate mit Negativrand, keine Ausschnitte, keine Tricks mit Vergrößerungen. Weil er selbst Künstler war, wußte er, wie er das Innere eines Künstlers mit seiner Hasselblad bannen konnte. Um hier das Optimum zu erreichen, scheute er keine Strapazen und erreichte dank seiner intensiven Überzeugungskunst, daß auch sein „Opfer“ alle Strapazen – was Pose und Aufnahmeort betraf – willig auf sich nahmen.

Das Ergebnis solcher Übungen war meistens außergewöhnlich – ob das nun die Dokumentation von Ueckers Bühne zu „Ludwig van Beethovens Leonore – Idee einer Oper“, der Bayreuther „Lohengrin“-Bühne Ueckers, „Zum Schweigen der Schrift oder die Sprachlosigkeit“ (Erker-Verlag) desselben Künstlers ist oder ob es sich um die fotografische Darstellung der „Schwarzen Madona von Tschenstochau“ oder von „Schloß Wawel“, dem polnischen Königsschloß in Krakau, handelte.

Erwin Heerich, der mir ebenfalls ein Statement für diesen „Versuch“ zur Verfügung stellte, hat sicherlich recht, wenn er Lothar Wolleh als einen „besessenen seiner Arbeit“ bezeichnet. „Ihn konnte nichts halten, wenn er auf dem Weg zu `seinem Bild´ war. Jeden, der in seiner Nähe war, konnte er in diesen Prozeß der Konzentration mit hineinziehen. Meine erste Begegnung mit ihm war nur kurz und auf die Realisierung eines Foto-Buches gerichtet. Zwei lange Tage, die mir unvergessen bleiben, erlebte ich ihn bei der Arbeit. Sie führten mir eindringlich vor Augen, wie leidenschaftlich jemand mit seiner Arbeit verbunden sein kann, wie sehr er alles dem einzigen Ziel unterordnen konnte: zu finden, was ihn in seiner Vorstellung vorantrieb, und zu realisieren, was davon mit seinen Mitteln möglich war. Nach dieser Anstrengung kam die Entspannung, die Freude am Gelingen, immer wieder auch die Hoffnung auf neue Abenteuer des Sehens, der genauen Beobachtung. Es gab lange Gespräche voller Fröhlichkeit und Nachdenklichkeit zugleich, utopische Träume und sehr realistische Wahrnehmungen, freundschaftliche Hilfe und Gemeinsamkeiten in manchen Hoffnungen.“

Dieser überaus empfindsame Mensch, der so tief sehen konnte, und so überdurchschnittlich phantasiebegabt war, konnte an „normalen“ Vorstellungen nicht gemessen werden. In der „Normalität“ wurde er gerne als „Spinner“ oder „übergeschnappter“ abqualifiziert. „Es ist schrecklich“, so klagte er mir gegenüber einmal, „keiner glaubt mir, was ich erzähle. Was ist eigentlich so Unglaubwürdiges an mir. Ich verstehe das alles nicht.“ Es ist auch nicht zu verstehen. Denn Unglaubwürdiges ist nie an ihm gewesen, aber Unglaubliches hat er getan – das ist wahr. [...]

Günther Uecker, Zeichnung für Lothar Wollehs „Totenschiff“

Es mag sein, dass wie Beuys es sieht, die schrecklichen Erfahrungen der Kindheit die Erlebnisfähigkeit des Fotografen Wolleh bis in die künstlerische Transformation hinein wesentlich bestimmt haben. Nicht anders ist ach seine besondere Sehnsucht nach Gotland zu verstehen, wo es ihn immer wieder hinzog und von wo er die erregendsten Geschichten mitbrachte. Dort, in vollkommener Einsamkeit, hing er seinen „irren“ Träumen nach. Dort baute ihm, eine alte Idee, Günther Uecker ein Totenschiff aus Findlingen und einen benagelten Balken. 

In Gotland liegt er begraben.