Lothar Wolleh war ein deutscher Fotograf.
Berlin, Deutschland 1930 - 1979 London, England.

Leben für die Fotografie

Lothar Wolleh, Gotlands Folkblad, 11. April 1959

Der junge Lothar Wolleh
  • Autor Jane
  • Zeit 1959

Am 11. April 1959 erscheint in der schwedischen Lokalzeitung Gotlands Folkblad der erste Artikel über Lothar Wolleh. Dem Journalisten, der den Artikel nur mit seinem Vornamen „Jane“ unterschreibt gelingt ein einfühlsames Portrait des jungen Wolleh, der nur für die Fotografie zu leben scheint. 

Kam nach sechs Jahren in sibirischem Gefangenenlager nach Gotland – Junger deutscher Fotograf zielt auf die Spitzengruppe der Fotografie

Er heisst Lothar Wolleh und ist 28 Jahre alt. Er ist Deutscher, hält sich jedoch seit ungefähr einem Jahr auf Gotland zur Erholung nach sechs Jahren in einem russischen Gefangenenlager auf. Zur Zeit arbeitet er als Praktikant in einem Fotostudio in Visby und streift in freien Stunden mit seiner Kamera durch die Stadt. Fotografie ist seine alles andere in den Schatten stellende Leidenschaft. Kenner der Fotografie behaupten, dass es gute Gründe gibt, sich seinen Namen zu merken, denn im August beginnt er eine zweijährige Ausbildung bei der berühmten Fotoakademie von Professor Steinert in Saarbrücken, und wenn diese abgeschlossen ist, sollte er nach jetziger Beurteilung einen guten Fortschritt auf dem Weg zu seinem selbstgesteckten Ziel erreicht haben: Die Spitzengruppe der Fotografie.

Denn bereits die Annahme als Schüler bei der Saarbrücker Universität ist ein Beleg für eine fotografische Begabung der einzigartigeren Art. Professor Steinert ist ein anspruchsvoller Mann. In dieser Hinsicht passt er jedoch zu Lothar Wolleh selbst – das mit dem Zukunftsziel verrät er ohne zu zwinkern, und für mehr bekannte Kollegen nicht übrig, ein Cartier-Bresson, ein Halsman, ein Capa – „tüchtige Fotografen, gewiss“ und dann kommt ein schnelles Achselzucken,  welches mit ein wenig gutem Willen als verächtlich aufgefasst werden kann, wonach er rasch und beinahe unmerklich zu dem Thema kommt was ihm absolut am nächsten liegt: er selbst und seine eigene Fotografie.

15 Jahre in Sibirien

Diese überlegene und ich-bewusste Attitüde ärgert zu Beginn ein wenig, bevor einem bewusst wird, was hinter ihr steckt und aus welchen Umständen sie herstammt.

Zuerst die Erlebnisse der Kriegsjahre: die Jugendjahre in dem Deutschland von Hitler und der alliierten Bombenangriffe, die Auslöschung der Familie. 1948 war er stellvertretender Bürgermeister in Boy's Town bei Frankfurt am Main. Zwei Jahre später, als er die Kunstakademie in Berlin besuchte und Grafiker werden wollte, wurde er von den Russen verhaftet und für fünfzehn Jahre nach Sibirien geschickt. Er kam nach sechs Jahren davon. Adenauer besuchte Moskau und eine Anzahl deutscher Gefangener wurde begnadigt.

Über Kontakte in der Flüchtlingsarbeit im Weltkirchenrat durfte er später nach Schweden und Gotland kommen.

Nur wenn er das Vergangene berührt hält er inne, wird bedrückt, flackernd. Aber er kommt schnell daran vorbei. Jetzt sieht es für ihn lichter aus; die Reaktion darauf, nach sechs Jahren im russischen Gefangenenlager an einen Platz in Sicherheit gekommen zu sein, den er sehr zu mögen gelernt hat, das krampfhafte Stählen gegen die Erinnerungen und das Wissen, dass er ein in ungewöhnlich hohem Grad begabter Fotograf ist, Steinert-Schüler werden darf und daher die Zukunft auf seiner Seite hat, hat sich in dem Selbstvertrauen manifestiert, welches sehr leicht anstößig wirkt. 

- Es gibt nichts was unmöglich ist. Jetzt nicht mehr. Nicht, wenn man das gesehen hat, was ich gesehen habe. Nach den Jahren an der Saarbrücker Universität rechne ich damit, meinen Reifungsprozess als Fotograf abgeschlossen zu haben und auf meinem Gebiet genug zu können um mich, wenn ich Lust habe, zur Spitze durchzuschlagen. Und Lust habe ich mit Sicherheit – ich bin ganz besonders ehrgeizig geworden.

Das letzte wird mit einem verschmitzten Lächeln gesagt. Mit Lothar Wolleh zu sprechen ist wie das langsam in die Suggestion einer Einmannvorstellung eines der fanatischen Hohenpriesters der Fotografie Hineingezogen werden, - andere Gesprächsthemen sind im Nachhinein verboten - der in einem eigentümlichen Trancezustand um ausgebreitete Mappen und Negativstapel kreist, sucht, beschreibt, mit eifrigen Gesten und exaltiertem Gemurmel von Metern, Winkeln und Belichtungen. Wenn man dann die lange, klapprige Gestalt beobachtet, hat man rasch den Verdacht, dass sich diese von alten, aussortierten Negativen ernährt, heruntergespült mit Fixierungsflüssigkeit.

  • Wenn ich eine gute Fotografie sehe erlebe ich das gleiche Gefühl wie beim Hören der Violinkonzerte von Brahms oder Beethoven.
Die Apothekerin und Kunstsammerlin, Ada Block, Visby 1958.

Subjektive Fotografie

Hier sollte erwähnt werden, dass, wenn Lothar Wolleh  von guter Fotografie spricht, er damit seit einiger Zeit die sogenannte subjektive Fotografie meint, d.h. eine experimentell ausgerichtete Fotografie die – nach seiner eigenen Formulierung – die meisten Formen von individueller schöpferischer Fotografie von abstrakter Fotografie bis zu tiefsinniger und streng ästhetisch gestalteten Reportage umfasst. Professor Steiner ist hier der Pionier.

Zwei Filmprojekte

Zur Zeit befasst er sich auch mit Filmplänen. Er wedelt mit einem Manuskript und führt eine kleine Pantomime auf, um zu illustrieren, wie er sich das ganze vorstellt. Es handelt sich um einen 16mm Experimentalfilm, bis auf weiteres „Der Spiegel des Jahres“ genannt, über die Erlebnisse eines anonymen Mannes während eines Tages, und er soll seine Wirkung vor allem auf eine suggestive Geräuschbegleitung stützen. Er und der Freund Göran Holmert wollen mit den Aufnahmen im Laufe des späten Frühlings beginnen. Die beiden haben außerdem die originelle Idee eines Kurzfilms über die Brandschatzung von Visby durch Valdemar Atterdag, der ausschließlich von dem Gemälde unten im Fornsal ausgeht. Kameratricks und passende Musik sollen den Rest besorgen.
- Toll, ganz toll! ruft Lothar Wolleh aus. 

Letzten Monat rief der bekannte schwedische Fotograf K.W. Gullers aus Stockholm an und wollte den jungen Deutschen anstellen. Das Ganze scheiterte daran, dass dessen Aufenthaltserlaubnis am 18. Juni ausläuft. Aber er kann sich gute Hoffnungen machen, dass diese verlängert wird.

  • Er hat ein Angebot erhalten, für die international bekannte Magnumgruppe in Paris zu arbeiten. Dies hat er abgelehnt, da er sich nicht für hinreichend reif hält.
  • Er hat einem deutschen Verlag die Lieferung einer Anzahl Farbfotos von solchen Visbymotiven zugesagt, die außerhalb des Blickfeldes des gewöhnlichen Touristen liegen. Ansonsten will er ausschließlich mit Schwarz-Weiss arbeiten. 
  • Am Ende des Sommers, wenn er selbst an der Schule in Saarbrücken ist, wird wahrscheinlich eine größere Zahl seiner Bilder in eine große Fotoausstellung in Visby aufgenommen.


Hinweis: Anders als in dem Artikel ausgeführt begann Lothar Wolleh seine Ausbildung an der Folkwang-Schule nicht in Saarbrücken, sondern in Essen. 

Gotlands Folkblad, 11. April 1959